Redebeitrag beim Mahngang Stolpersteine 09.11.2025

„Wir haben uns hier versammelt, um an die Pogromnächte von 1938 zu erinnern. In ganz Deutschland wurden in den Novembertagen 1938 Synagogen niedergebrannt, jüdische Geschäfte geplündert, Menschen angegriffen, verletzt, verschleppt, erniedrigt und ermordet.

Der 9. November 1938 war der Beginn des offenen Terrors gegen Jüdinnen und Juden, der in den systematischen Massenmord – in der Shoa mündete. Bis zum Ende der NS-Herrschaft wurden über sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens oder mit jüdischer Familiengeschichte ermordet.

Auch in Greiz endeten Jahrhunderte jüdischer Geschichte an diesem Tag – mit Ausschreitungen und Plünderungen, mit Angriffen und Vertreibung, mit Verhaftungen und Gewalt.

Hannah Arendt schrieb über ihre eigene Erfahrung in der Zeit des Nationalsozialismus:
„Man denkt heute oft, daß der Schock der deutschen Juden 1933 sich damit erklärt, daß Hitler zur Macht kam. Nun, was mich und Menschen meiner Generation betrifft, kann ich sagen, daß das ein kurioses Mißverständnis ist. Das war natürlich sehr schlimm. Aber es war politisch. Es war nicht persönlich. Daß die Nazis unsere Feinde sind – mein Gott, wir brauchten doch, bitte schön, nicht Hitler, um das zu wissen! (…) Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von
Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors, vorging: Das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. (…) Und das habe ich nie vergessen.“

Diese Worte fordern uns auf, nicht zuzulassen, dass sich je wieder ein solcher „leerer
Raum“ bildet – zwischen Menschen, zwischen Nachbarn, zwischen uns. Die Verbrechen der Nazis geschahen eben nicht irgendwie und irgendwo. Sondern auch hier. In dieser Stadt, in diesen Straßen. Begangen von Menschen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft.

Erinnern heißt auch: sich verbinden, Verantwortung übernehmen, und hinschauen, wo Unrecht geschieht. Albert Einstein sagte einmal: „Aus dem Gestern lernen, für das Heute leben, für das Morgen hoffen. Das Wichtigste ist, dass man nicht aufhört zu hinterfragen.“

Dieses Hinterfragen bleibt unsere Aufgabe – gerade heute. Denn Antisemitismus ist nicht Vergangenheit. Wir sehen ihn wieder – auf offener Straße, in sozialen Netzwerken, in Schulen, in Parlamenten. Jüdinnen und Juden werden bedroht, beleidigt, angegriffen – in Deutschland, heute.

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sowie den folgenden Attacken durch die Hisbollah, seit dem Beginn des Krieges in Israel und Gaza kommt es weltweit zu antisemitischen Vorfällen. Auch in Deutschland: Hunderte Demonstrationen, Parolen, Boykottaufrufe, Ausschreitungen und Angriffe, die von antisemitischen oder antiisraelischen Motiven bzw. israelbezogenem Antisemitismus geprägt sind. In Deutschland wurden im Jahr 2023 etwa 5000 antisemitische Straftaten registriert, die Hälfte davon nach dem 7. Oktober; im Jahr 2024 über 6000. Die Zahlen haben sich mehr als verdoppelt.

Bei aller berechtigter Kritik am Vorgehen der israelischen Armee: Wir sehen, wie sich manche am Konflikt zwischen Israel und Gaza abarbeiten – obsessiv, einseitig, ohne Empathie für jüdisches Leben. Der Konflikt im Nahen Osten wird benutzt, während andere Schauplätze schrecklicher Auseinandersetzungen fast keine Beachtung finden. Sei es der Sudan, die Huthi im Jemen, die Ukraine, alles inzwischen kaum noch im Fokus … Stattdessen: Vermeintliche „Israelkritik“ wird zur Bühne für uralte antisemitische Bilder. Komplexe politische Fragen werden auf Parolen verkürzt, und manche stellen sich Seite an Seite mit Antisemiten und Islamisten.

Ich bin der Meinung: Wer Parolen ruft, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, darf sich nicht mehr auf das Recht der Kritik berufen. Das ist kein Engagement für Frieden – das überschreitet eine Grenze – und trägt dazu bei, dass jüdische Menschen auch in Deutschland wieder Angst haben müssen.

Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir uns hier versammeln. Dass wir sichtbar machen, was geschehen ist – und dass wir klar sagen, was nie wieder geschehen darf.

Gedenken bleibt leer, bleibt eine Phrase, wenn es nicht auch bedeutet, Haltung zu zeigen: Gegen Hass, gegen Hetze, gegen Antisemitismus, gegen Gleichgültigkeit. Und für das Leben, die Würde und die Sicherheit aller Menschen – unabhängig von Religion, Herkunft, Identität.

Hannah Arendt noch einmal:
„Die traurige Wahrheit ist, dass das meiste Böse von Menschen begangen wird, die sich nie entscheiden, ob sie gut oder böse sind.“

Und genau das ist das Wichtigste: Wegsehen, Schweigen oder Gleichgültigkeit sind niemals neutral. Verantwortung beginnt im Kleinen – im Alltag, im Gespräch, im Widerspruch.

Dafür stehen wir heute hier.
Auch dafür liegen diese Stolpersteine – als Zeichen des Gedenkens, als Mahnung und vor allem: als Auftrag.“

Die OTZ hat auch über den Mahngang berichtet:
https://www.otz.de/lokales/landkreis-greiz/article410431085/greizer-buerger-gedenken-der-novemberpogrome-und-warnen-vor-antisemitismus.html

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