LTI – Notizbuch eines Philologen (Victor Klemperer)

Lingua Tertii Imperii – „Sprache des Dritten Reichs“.

„Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.“

Die 1947 erstmals erschienene Essay-artige Aufarbeitung seiner Tagebücher aus der Zeit des Nationalsozialismus bringt dem Leser Schicksal und Werk Victor Klemperers nahe. Wie Sprache das Denken sichtbar macht, wie Sprache aber auch das Denken formt, wie Täter und Funktionäre, aber auch die Opfer die Sprache des Dritten Reiches verinnerlichen, dokumentiert Klemperer präzisse und aufschlussreich. Dabei ist das Buch auch ein unverzichtbares Zeitdokument, denn es beschreibt auch Episoden von Entrechtung, Verfolgung und Flucht. Wer sich in die Zeit des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung in authentischer biografischer Form hineinversetzen will, der ist mit Victor Klemperers LTI und natürlich den Tagebüchern aus jener Zeit gut beraten.

Beispielhaft möchte ich hier aus dem Buch die Analyse der Verwendung des Begriffs „System“ erwähnen. So schreibt Victor Klemperer: „Wenn aber der Nationalsozialist „das System“ sagt, so meint er ausschließlich das System der Weimarer Verfassung.“ … „Für die Nazis war das Regierungssystem der Weimarer Republik das System schlechthin, weil sie mit ihm in unmittelbarem Kampf gestanden hatten, weil sie in ihm die schlechteste Regierungsform sahen und sich schärfer zu ihm in Gegensatz fühlten als etwa zur Monarchie.“ Weiter führt er aus, dass die Nazis ihre eigene Regierungsform nicht als System bezeichneten, sondern: „Sie haben kein System, sie haben eine Organisation, sie systematisieren nicht mit dem Verstande, sie lauschen dem Organischen seine Geheimnisse ab.“ Nachweisen kann man diese Bedeutung der Formulierung aus den Schriften des NS-Ideologen Alfred Rosenberg, der bereits ab 1918 antisemitische, rassistische, völkische Schriften verfasste. In seinem Buch „Mythos“ tritt er ein für eine „organische Wahrheit“, die aus dem Blut einer Rasse hervorwüchse. Diese würde nicht vom Intellekt erdacht, sie bestünde nicht in einem vernunftmäßigen Wissen, sondern entstünde in einem „geheimnisvollen Zentrum der Volks- und Rassenseele“. Nach Rosenbergs „Erkenntnissen“ gehört „fortgeräumt der ganze blutlose intellektualisierte Schutthaufen rein schematischer Systeme.“ System als Begriff ist bei den Nazis also immer negativ zu verstehen, systematisches Denken und logisches Erfassen ist ihnen verhasst, da ihre Ideologie darauf basiert, dass ein „organisches“ Volk mit eigenem Empfinden Wahrheiten und Willen erlangt, was sich nur mythisch erfassen liese. Die Ideologie der Nazis basiert letzlich auf Glauben und auf dem gewaltsamen Mitreißen der Menschen durch die faschistische Bewegung (Bewegung – ein weiter, wichtiger LTI-Begriff), sie braucht das Mythische, das Halbdunkel, nicht aber Vernunft, Wissen oder systematische Erkenntnis, das störte nur beim wortgewaltigen Betäuben der Massen. (LTI, Reclam 2015, 26. Auflage, 116ff.) Dies alles erkannte Klemperer schon während der NS-Herrschaft.

Wer sich nun noch kurz in die heutige Zeit versetzt, und führende AfD-Vertreter auf „Systempresse“ und „Systemparteien“ schimpfen hört, der erkennt dort freilich Bezüge. Auch Wissenschaftsfeindlichkeit ist den heutigen Rechtsaußen alles andere als fremd. Und gerade deshalb bleibt Klemperers LTI unbedingt lesenswert. Empfehlen würde ich die Ausgaben mit dem aufschlussreichen Kommentar von Elke Fröhlich, da die zeitgeschichtlichen Hintergründe, Querverweise und auch erwähnte und zitierte Personen sich sonst schwer erschließen. Aufschlussreich ist auch, wie Klemperer zeigt, dass auch Opfer und Verfolgte, ja stellenweise auch er selbst dem vorherrschendem Denken seiner Zeit und auch der Sprache der Nationalsozialisten verfällt.

Und wenn ich mal ganz viel Zeit habe, lese ich auch noch die Tagebücher.

Victor Klemperer – LTI – Notizbuch eines Philologen, nach der Ausgabe letzter Hand, herausgegeben und kommentiert von Elke Fröhlich, 416 S., Reclam

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