Kaltland – Eine Sammlung

„Es ist so deutsch in Kaltland!“ rappte 2013 Captain Gips und schon 1994 sangen Toxoplasma: „Es ist Deutsch in Kaltland – im Land der sauberen Bürgersteige – Wo die Ordnung mehr als alles andere zählt – Es ist Deutsch in Kaltland – im Land der glänzenden Fassaden – Wo man die wahre Reinheit – Für die reine Wahrheit hält“.

Tatsächlich beschreiben beide Werke eine ähnliche Grundstimmung, die auch dieses Buch von 2011 transportiert. Die Zeit nach der sogenannten friedlichen Revolution war alles andere als friedlich. Was in offiziellem Gedenken und Erinnern kaum bis gar nicht Erwähnung findet, was auch in vielen Wenderomanen und -filmen noch nicht mal am Rande stattfindet, wird in diesem Buch aufgearbeitet. Es geht um einen Alltag in weiten Teilen Ostdeutschlands mit Neonazismus als dominierender Subkultur, um die menschenverachtenden, rassistischen Ausschreitungen und Anschläge in Lichtenhagen, Hoyerswerda, Eberswalde, um das institutionalisierte Ausblenden und Wegsehen, um die Ignoranz weiter Teile der deutschen Bevölkerung.

Bestimmte Opfergruppen wurden konsequent ausgeklammert, weil sonst Fragen gestellt werden müssten, die auch die Rolle der Politik und der bürgerlichen Mitte in den Nachwendejahren kritisch beleuchten würden. Politiker*innen großer Parteien, die von „Asylantenflut“ und „das Boot ist voll“ schwadronierten, während militante Neonazis „National befreite Zonen“ schufen. Aus unterschiedlichen Perspektiven stellen verschiedene Autoren die Nachwendezeit aus ihrer eigenen, persönlichen Sicht dar. Eine wissenschaftliche Analyse der Ereignisse in den 90ern, für die in jüngerer Vergangenheit auch der Hashtag #baselballschlägerjahre die Runde machte, ist hier allerdings nicht das Ziel. Vielmehr treten Sichtweisen und Perspektiven zutage, die in der öffentlichen Wahrnehmung viel zu selten eine Rolle spielten.

Besonders eindrücklich war für mich das Kapitel von Jochen Schmidt – „Im Sonnenblumenhaus“, eine Schilderung der Ereignisse 1992 in Rostock-Lichtenhagen aus Sicht von Journalist*innen mitten im Geschehen. Die Angst und die Verzweiflung im Haus und die tosende Unmenschlichkeit tausender gröhlender Zuschauer*innen und hunderter Täter*innen auf der Wiese vor dem Haus, die Erkenntnis wie dünn doch diese Schicht aus Moral, Menschlichkeit, Mitgefühl ist, Werte, die doch angeblich so zentral für unser europäisches Selbstbild sein sollen. Man kann es eigentlich noch immer nicht fassen.

Andere Kapitel, die vom Klima der Angst in der ostdeutschen Provinz berichten, sind mir tatsächlich persönlich näher und fassbarer, habe ich doch in den späten 90ern auch das ein oder andere, zum Glück glimpfliche Erlebnis mit „Dorf-Faschos“ gehabt.


Wer sich also fragt, auf welchem Boden Pegida, AfD und diverse andere Gruppierungen gedeihen, wer sich fragt wo das Fundament gelegt wurde für den Rechtsruck der Gesellschaft, insbesondere auch im Osten, der findet in dieser Sammlung vielleicht nicht die Antwort aber doch jede Menge Indizien, die zeigen, dass vieles, was in den letzten Jahren bis heute passiert ist, eben in keinster Weise überraschend kam.

Kaltland – Eine Sammlung
Herrausgegeben von Karsten Krampitz / Markus Liske / Manja Präkels, Rotbuch Verlag 2011

Bildquellen

  • kaltland: https://www.rotbuch.de/buch/sku/66813/kaltland.html

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